Grundprinzipien für die Diagnose und Behandlung des Aufmerksamkeits-Defizit-Syndroms / Hyperaktivität
Vorbemerkung
Der folgende Text ist eine freie Übersetzung des Grundsatzdokumentes: "Guiding Principles for the Diagnosis and Treatment of Attention Deficit Hyperactivity Disorder", verfasst von The National Attention Deficit Disorder Association.
Einleitung
In den vergangenen zwei Jahrzehnten erfolgte in den USA eine fast explosionsartige Zunahme von Diagnosenstellungen, Behandlungen und Forschungen zum Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit und ohne Hyperaktivität (ADD) auf.ADD/ADHD ist eine häufige Störung. Die vierte Auflage des sog. DSM (Diagnostic and Statistical Manual of the American Psychiatric Association) schätzt, dass ADD/ADHD bei ca. 3-5 % aller Schulkindern nachweisbar ist. Eine aktuelle Zusammenstellung von 13 Prävalenzstudien gehen je nach verwendeter Methodik und untersuchten Population von einer Häufigkeit von 1,7 bis 16 % aus (1). Weil mehr über ADD/ADHD in den Medien bekannt wird, beschäftigen sich auch immer mehr Erwachsene mit der Frage, ob ADD/ADHD als wesentlicher Faktor für die Schwierigkeiten ihrer Kinder - oder eigenen Problemen - eine Rolle spielt.
Patienten, die bei sich oder ihren Angehörigen ADD/ADHD vermuten, wenden sich zunächst an ihren Hausarzt, Nervenarzt oder Psychiater oder ggf. den Kinderarzt. Die Hilfestellung, die sie dort erhalten, variiert stark von einem kurzen Praxisbesuch mit einer Rezeptverschreibung bis hin zu umfangreichen Diagnostik von mehreren unterschiedlichen Fachgebieten. Wir sind besorgt, dass paradoxerweise ADD/ADHD dabei derzeit sowohl zu häufig wie auch zu selten diagnostiziert wird. ADD/ADHD wird heute noch häufig nicht ausreichend bzw. fachgerecht behandelt, andererseits z.T. aber auch unsachgemäß übertherapiert.
Zielsetzung der folgenden Zusammenstellung ist es daher, einen
Standard für die Diagnostik und Therapie von ADD/ADHD zu beschreiben:
![]() | Untersuche und behandele einen Menschen, nicht Symptome! |
Ein umfassendes Diagnostikverfahren für ADD/ADHD umfasst jeweils eine Beschreibung der gesamten Person. D.h. man muss ermitteln, wo die ADD/ADHD-Symptome die physische und psychische Funktionsfähigkeit einer Person bzw. deren Persönlichkeit beeinflussen. Jeder Mensch ist ein Individuum, mit eigenen Stärken und Schwächen. Eine Diagnose, die allein nur einzelne Aufmerksamkeitssymptome checklistenartig in Schubladen presst, ist ungeeignet. Wenn man die Persönlichkeit des Hilfesuchenden erkannt hat, kann man die Bedeutung der ADD/ADHD-Symptomatik in dem gesamten Lebenskontext verstehen. Der Erfolg einer Behandlung hängt davon ab, ADD/ADHD innerhalb der Lebensumstände zu verstehen und zu integrieren.
Denke an ADD/ADHD, aber berücksichtige auch
Differentialdiagnosen!
ADD/ADHD ist eine häufige Störung und sollte als beteiligter Faktor bedacht
werden, wenn ein Kind oder ein Erwachsener über Schwierigkeiten in folgenden
Bereichen klagt: Lernstörungen, Selbstkontrolle, Abhängigkeiten, Kontakte mit
anderen Menschen oder andere gesundheitliche Probleme.
Dabei kann sich ADD/ADHD in einem sehr unterschiedlichem Ausmaß darstellen. Die
richtige Diagnosenstellung des ADD/ADHD kann helfen, die Existenz anderer
Störungen der Gesundheit, Lernstörungen oder emotionalen Störungen zu
verstehen, bzw. kann als begleitende Störung auftreten. Hierzu sollten die
professionellen Diagnostikern u.a. an folgende häufig begleitende Zustände
denken:
![]() | Depressive und bipolare Störungen
![]() Angststörungen
| ![]() Suchterkrankungen wie Alkoholabhängigkeit, Spielsucht,
Essstörungen etc.
| ![]() Störungen mit oppositionellem Trotzverhalten /
Verhaltensstörungen bei Kindern
| ![]() Lernstörungen insbesondere Schreib- und Leseschwäche
| ![]() Psychotische Erkrankungen und Entwicklungsstörungen
| ![]() Zwangsstörungen
| ![]() Persönlichkeitsstörungen
| ![]() Tic-Störungen
| ![]() Hypo- und Hyperthyreoidismus
| ![]() Schlafstörungen
| ![]() Erberkrankungen (Chromosomale Störungen wie z.B.
Klinefelter-Syndrom)
| ![]() Hirnverletzungen / Traumata | |
ADD/ADHD-Symptome können in allen Lebensabschnitten auftreten
ADD/ADHD ist das Resultat von biologischen Unterschieden in Hirnabschnitten,
die für die Aufmerksamkeit, Impulskontrolle und Wachheitsgrad zuständig ist.
Während ADD/ADHD also biologisch begründet ist und in der Regel seit der
Geburt vorhanden ist, können Symptome auch erst dann auftreten, wenn der/die
Betroffene aus irgendwelchen Gründen den Alltagsanforderungen nicht mehr
gewachsen ist. Dabei kann ADD/ADHD zu jedem beliebigen Zeitpunkt im Leben
symptomatisch werden. Obwohl also die Symptome des ADD/ADHD den Patienten nicht
unbedingt zuvor im Leben beeinträchtigt haben müssen, müssen sich doch für
die Diagnosenstellung typische Zeichen in der Kindheit nachweisen lassen. Hierzu
sollte der Untersucher nach Hinweisen für Hyperaktivität oder
Aufmerksamkeitsstörungen in der Kindheit suchen und hierzu u.a. Berichte der
Eltern, Zeugnisse oder Lehrerkommentare, Vorbehandlungen bei Psychologen oder
Ärzte verwenden.
ADD/ADHD beeinträchtigt häufig die Ausbildung. Ein fehlender Schulerfolg
beeinflusst die spätere wirtschaftliche und soziale Lebensführung erheblich.
Daher sollten Lernbeeinträchtigungen und Schulprobleme sorgfältig erfragt
werden. Andererseits schliessen schulischer oder beruflicher Erfolg keineswegs
die Diagnose eines ADD/ADHD aus.
ADD/ADHD beeinflusst verschiedene Bereiche des
Lebens.
Es kann eine Vielzahl von gesundheitlichen Problemen, Konzentrationsprobleme,
Lernstörungen, Ausbildungsprobleme, oder Sprachstörungen beeinflussen oder
imitieren. Daher erfordert eine angemessene, umfassende Diagnostik für ADD/ADHD
eine medizinische Anamnese sowie Informationen zur Schulausbildung und
Verhalten. Zusätzlich sollte ein normales Gehör und Sehvermögen durch einen
Arzt festgestellt werden und eine systemische Erkrankung oder
Entwicklungsstörung ausgeschlossen sein. Die Diagnostik von ADD/ADHD sollte nie
alleine auf der Basis von Selbstbeurteilungsbögen, Fragebögen oder Tests
beruhen. Vielmehr muss die Abklärung von ADD/ADHD drei grundlegende Fragen
beantworten:
1. Liegen eine ausreichende Anzahl von ADD/ADHD-Symptomen gegenwärtig vor, die
fortlaufend eine wesentliche Beeinträchtigung für die betroffene Person
darstellen?
Die Diagnostik und Behandlung von ADD/ADHD sollte durch einen qualifizierten Fachmann erfolgen.
Ein (für ADD/ADHD) qualifizierter Fachmann kann aus einer der folgenden Fachgruppen stammen : Psychiater / Neurologe, Kinderarzt /-psychiater , Internist, Hausarzt oder andere qualifizierte Ärzte; Psychologen bzw. Psychotherapeuten. Ein entsprechender Fachmann / bzw. eine Fachfrau sollte nicht nur die Erlaubnis zu Praktizieren haben, sondern Ausbildung und Erfahrung in der Differentialdiagnose und Behandlung von ADD/ADHD und dem gesamten Spektrum psychiatrischer Erkrankungen.Die Wirkung einer Medikation sollte nicht
Grundlage der Diagnosenstellung von ADD/ADHD sein.
Es gibt eine Reihe von Gründen, warum man aus der individuellen Reaktion auf
eine Stimulantien-Therapie oder eine andere Medikation keine richtigen
Rückschlüsse auf das Vorhandensein von ADD/ADHD schließen kann. Erstens muss
man wissen, dass Stimulantien keineswegs nur bei Patienten mit ADD/ADHD eine
Wirkung haben; auch andere Patientengruppen bzw. Gesunde können positiv auf sie
reagieren. Zweitens kann eine fehlende Wirkung der Medikation an einer falschen
Dosis oder aber ein fehlendes Ansprechen des Organismus auf dieses Medikament
liegen und nicht unbedingt dadurch begründet sein, dass bei der Person nicht
die Diagnose ADD/ADHD zutrifft. Drittens könnte ein positives Ansprechen auf
das Medikament eher auf einen Placeboeffekt als auf eine wirkliche Indikation
bzw. Beweis für ein ADD/ADHD zurück zuführen sein. Viertens könnte die
Verwendung eines Medikamentes zur Diagnostik den Arzt verleiten, vorschnell den
diagnostischen Prozess zu beenden ohne andere Erkrankungen zu berücksichtigen,
die gleichzeitig mit ADD/ADHD auftreten können und gemeinsam die individuelle
Leistungsfähigkeit beschränken.
Die Diagnose sollte sich primär an die
diagnostischen Kriterien des DSM-IV. halten.
Um eine Standardisierung zu erreichen, sollte die Diagnose von ADD/ADHD sich an
den gegenwärtigen internationalen Kriterien für psychische Erkrankungen
halten. Dies sind derzeit auch international die Kriterien des Diagnostic and
Statistical Manual of the American Psychiatric Association, 4. Auflage, bekannt
als DSM-IV. Einige Experten haben zurecht die DSM-IV-Kriterien von ADD/ADHD
kritisiert und zahlreiche Probleme benannt. Insbesondere sind die Kriterien
nicht auf unterschiedliche Altersgruppen angepasst, so dass sie in der
publizierten Form zu inflexibel für die Diagnose von Erwachsenen seien, d.h.
Erwachsene werden derzeit noch zu selten erfasst. Hierzu wurden bereits geringe
Anpassungen in der Fachliteratur empfohlen, dennoch ist es dringend angeraten
sich primär an diesen Diagnosekritieren zu halten.
Die Diagnose und Behandlung sollte
andere Personen einschliessen, die auch Fremdbeurteilungen geben können.
Eine geeignete Diagnose und Behandlung von ADD/ADHD sollte andere Personen wie
Eltern, Partner, Lehrer und - wenn dies sinnvoll und möglich ist - Arbeitgeber.
Diese Menschen können für die Zusammenarbeit sehr nützlich sein und wertvolle
Informationen für den diagnostischen Prozess und die Behandlung liefern. Wenn
sie Informationen über ADD/ADHD erhalten und ADD/ADHD dadurch besser
akzeptieren können, können sie so auch eine wertvolle Unterstützung für den
ADDler werden.
Die Behandlung sollte in Zusammenarbeit
verschiedener Berufsgruppen erfolgen.
Da es gegenwärtig keinen Weg gibt, ADD/ADHD zu heilen", besteht das
wesentliche Ziel der Behandlung darin, die individuellen Fähigkeiten damit
umzugehen zu verbessern (sog. Coping). Zu lernen, ADD/ADHD zu bewältigen",
erfordert häufig eine Kombination von Behandlungen durch Experten
unterschiedlicher Fachrichtungen. Ein Arzt der Stimulantien bzw. andere
geeignete Medikamente verschreibt. Ein Psychotherapeut (bzw. Nervenarzt,
Psychiater, Neurologe oder andere Experte), der eine unterstützende
Informationsvermittlung für ihn und seine Familie anbietet,
Kompensationsstrategien zu Haus und in der Schule oder Arbeit vermittelt und ein
Training zum Erlernen von Verhaltenstechniken anbietet. Ein Pädagoge / Lehrer
kann schulische Probleme neu bewerten und Hilfestellungen anbieten und dann
Eltern oder Therapeuten eine Rückmeldung über die Effektivität der Behandlung
geben. Somit sollten Angehörige verschiedener Berufsgruppen sich miteinander
austauschen und ihre Bemühungen koordinieren.
Prinzipiell sollte man nicht mit einer medikamentösen Behandlung
beginnen, bevor eine umfassende Informationsvermittlung abgeschlossen wurde und
eine Indikation für etwaige andere Behandlungsformen ausgeschlossen wurde.
Ärzte bzw. andere Therapeuten sollten
sich mit den aktuellen Forschungsergebnissen und Diagnostikverfahren vertraut
machen.
Es ist die Verantwortung von jedem Arzt oder Psychotherapeuten, der mit der
Erhebung und dem Umgang mit ADD/ADHD beschäftigt ist, das jeweils aktuellste
Wissen über ADD/ADHD in sein / ihr klinisches Repertoire zu integrieren. Das
verbesserte Wissen um Ursachen, Diagnose und Behandlung von ADD/ADHD, das aus
der Zusammenstellung der aktuellen Veröffentlichungen stammt, wird wesentlich
zu einer Verbesserung der Versorgung beitragen. Wir appellieren an alle Experten
sich mit dem aktualisierten Stand von Diagnostikmethoden sowie den
Voraussetzungen einer umfassenden Berücksichtigung aller Aspekte von ADD/ADHD
und neuesten Behandlungsmethoden vertraut zu machen.
(1) Goldman, L.S., Genel, M., Bezman, R.J., and
Slanetz, P.J. (1998). Council report of diagnosis and treatment of
Attention -Deficit Hyperactivity Disorder in children and adolescents. Journal
of the American Medical Association, 279, 1100-1107.
(c) 1998 National Attention Deficit Disorder Association. This document may be reproduced for personal nonprofit use, otherwise expressed permission from National ADDA is required.
Questions and inquiries should be directed to:
National Attention Deficit Disorder Association
9930 Johnnycake Ridge Road, Suite 3E
Mentor, OH 44060