Von Kindern und Hunden!

 

In einem Forum zu ADD wurde ein Artikel veröffentlicht, den ich mit Erlaubnis der Verfasserin hier ebenfalls zur Diskussion stellen möchte. Der Grund dafür ist, dass in diesem Vergleich sehr vieles gesagt wird, was auch ich versucht habe auszudrücken. Ich lenke die geschätzte Aufmerksamkeit deshalb auf das Folgende.

 

Susanne Franz

Kinder und Hunde

Eigentlich wollte ich stille Leserin   (Mutter eines nicht-tellerwerfenden ADS-Sohnes) bleiben, aber da die Geschichte nun auf den Hund gekommen ist, kann ich mich als Hundenärrin doch nicht mehr bremsen. Leider bin ich schon einmal mit dem Vergleich Kinder-Hunde-Erziehung ins Fettnäpfchen getreten. Andererseits hat erst neulich Fr. Neuhaus auf einem Vortrag diesen Vergleich gebracht. Kurze Anweisungen wie bei einem Hund geben - längere Reden werden nicht erhört und eh wieder vergessen. Nun denn.

Meine Hunde lernten z. Bsp. stets am besten durch Erfahrungen und sofortiger Konsequenz. Wenn Mütter ihren Kleinkindern auf die Finger klopfen, um sie von der heißen Herdplatte fernzuhalten, lernen die Kinder aus diesem Verbot nur, dass sie es am besten mal versuchen, wenn Mama aus der Küche ist. Außerdem ist das die beste Vorbereitung darauf, dass man seinen Kopf durch "hauen" durchsetzen kann. Lernt das Kind aber durch das Berühren einer leicht erwärmten Platte, was das Wort "Heiß" bedeutet, wird ihm das Verbot eher einleuchten. So ähnlich habe ich es mit unseren Kindern gehalten. Was nicht heißen soll, dass ich sie wirklichen Gefahren ausgesetzt hätte. Davor müssen sie so lange geschützt werden, bis sie die Gefahr als solche begreifen und ihr entgehen können.

In Trumlers Ratgeber für den Hundefreund habe ich folgenden Abschnitt gelesen:

"Hunde und Kinder haben etwas gemeinsam: sie haben von Natur aus in ihrer Jugend geradezu das Bedürfnis, sich älteren und klügeren Artgenossen unterzuordnen. Bei Wildhunden klappt das wunderbar. Bei uns Menschen viel weniger oder gar nicht. Weil wir unter Unterordnung etwas ganz Verkehrtes verstehen - "Hände an die Hosennaht" - oder ähnlichen Quatsch, der mehr mit Militarismus als mit Kindererziehung zu tun hat. Wer seinem Kind aber Vorbild ist, braucht nicht von ihm zu verlangen, dass es vor ihm kuscht. Es wird sich freiwillig nach dem Vorbild ausrichten. Wo das Vorbild fehlt, herrscht Unsicherheit. Wo Unsicherheit ist, wächst der Protest wie aus einem morschen Holz der Pilz. Und dies ist ein ganz entscheidender Punkt in der Erziehung von Kind und Hund, die einander so unglaublich gleichen, dass man zu dem Schluss kommen muss: nur wer ein Kind erziehen kann, schafft es auch beim Hund!" 1)

(Der letzte Satz, hatte mich schon einmal in Schwierigkeiten gebracht ).

Nehmen wir nun mal unsere kleinen Jungs. Welche Vorbilder haben sie oftmals? Im Kindergarten Erzieherinnen, die einst "brave" Mädchen waren. Altersgenossinnen, die ihnen sprachlich, feinmotorisch und im Umgang mit ihren Gefühlen stets voraus sind. Meistens können Jungs ihre Gefühle besser durch Handeln, wie durch Sprache ausdrücken. Was passiert nun bei aufgestauten Aggressionen oder bei Ungerechtigkeiten ? Sie toben und schreien ihre Ängste und Wut heraus. Dabei ist ihre Seele nicht weniger verletzlich, als die der ruhigeren Mädchen. Dabei brauchen sie ebenso viel Liebe und körperliche Nähe. Doch was passiert nun: Superkluge Experten geben Ratschläge wie Aussperren oder Klapse auf den Po. Eine weitere Vorbereitung darauf, dass Konflikte mit Gewalt zu lösen sind. Solche Liebesentzugs-Maßnahmen provozieren Ängste, Wut, Demütigung und gestörte Sensibilität sowie Überreaktionen. Hier ist nun auch der Vater gefragt, der seinem Sohn zeigt über Gefühle zu sprechen, aufgestaute Wut anders abzuarbeiten. Väter können eine Vertrauensbasis schaffen, indem sie viel von ihren Gedanken und Gefühlen erzählen.

Kommen die Buben nun in die Schule, stehen sie meistens LehrerINNEN gegenüber, denen die "begabteren Mädels" wieder mal lieber sind. Jungs wären besser dran, würden sie ein Jahr später eingeschult, um endlich mal eine Chancengleichheit zu bekommen. Aber statt dessen stehen sie nun durch ihr Lernverhalten und ihre Impulsivität mal wieder hinten an. Misserfolge und Ermahnungen begleiten sie fort an. Ganz wichtig wären endlich mehr männliche Erzieher und Grundschullehrer. Mein Sohn entdeckte seine Leidenschaft fürs Werkeln durch einen kurzfristig beschäftigten Erzieher im Kindergarten. Seither ist sein Kinderzimmer eher als Schreinerei und Materiallager (Steine, Nägel, Holz, Müll) zu bezeichnen. Leider hat er nie genug Material für seine Ideen.

Zum Glück hat er auch einen Vater, der ihn aus der "Weiberwelt" in die "Männerwelt" mitnimmt und mit ihm ein Baumhaus baut, schnitzen beibringt, rad fährt, Flitzebogen baut, schwimmen geht, Judotricks ausprobiert, Reifen wechselt und seine Hibbeligkeit schon im Alter von 5 Jahren mit Angeln bekämpfte. Mittlerweile verlegt sich Sohnemann aufs Fliegenfischen und bindet seine Kunstfliegen selbst. Und spielt mit Begeisterung Mundharmonika, nur ohne Noten. Aber genauso lernt Sohnemann Haushaltspflichten, indem es ihm sein Vater "vorlebt" und ihn mit einspannt.

Wie oft habe ich über die meist harmlosen Raufereien kleiner Jungs gegrinst, erinnerten sie mich doch an das spielerische Erlernen von Kämpfen und Verlieren bei Junghunden. Ist es nicht gerade den Buben angeboren, mit diesen kleinen "Schlachten" (Hackordnung) den Umgang mit Aggression, Ängste, Mut sowie Siegen und Verlieren auf diese Art zu trainieren. Leider haben da die meisten Mütter und Mädchen wenig Verständnis für. Mädchen sind da fieser. Sie wetteifern mittels Angeberei. Jetzt bin ich aber ganz vom Thema abgekommen.

Komme ich also zurück zu Trumler:

"Kinder wie Hunde haben etwas gemeinsam: sie können leichtere Fälle unseres eigenen Versagens schnell vergessen - schwerere Fälle in dieser Richtung aber höchstens aus ihrem Bewusstsein verdrängen, jedoch nicht aus ihrem Unterbewusstsein eliminieren. Kein Mensch ist vollkommen, und daher hat die Natur es so eingerichtet, dass die kleinen menschlichen Schwächen im Kind keinen nachhaltigen Schock auslösen. Nicht anders ist der Hund. Auch der Vaterrüde hat mal seinen schlechten Tag und knurrt die Welpen öfter an, als es notwendig wäre. Wenn hier nicht ein gewisses Maß Dickfelligkeit wäre, müssten auch Welpen neurotisch werden, die in einer intakten Wildhundfamilie aufwachsen. Es ist heute so modern, Kinder als ungemein zerbrechliche Pflanzen anzusehen und entsprechend übervorsichtig anzufassen. Hier beißt sich die Schlange in den Schwanz! Wir sind vom einstigen Despotismus als negativem Extrem umgewechselt zum anderen Extrem der Erziehungslosigkeit, die den Kindern kein Vorbild, keine Konsequenz, keine Autorität mehr bietet. Eine Erziehung ohne Autorität ist keine Erziehung, sondern ein Verneinen der echten Ansprüche unserer Kinder. Wir stoßen sie mit solchen unsinnigen Ideen aus der Familie aus, anstatt sie zu integrieren." 1)

Im Grunde genommen, drückt hier dieser Hunderatgeber das selbe aus, wie Hans. Überbehütung und Vernachlässigung führen zur Aggressivität - liebevolle Konsequenz in Form von Einfühlen in die Gedanken und Gefühle des Kindes sowie aufzeigen von Grenzen und Spielregeln sind der goldene Mittelweg. Und das nicht nur beim ADS-Kind.

Aber wie fürs ADS-Kind geschrieben sei nun der letztzitierte Absatz:

"Eine Integration in den Rudel- oder Familienverband bedarf einer klaren Linie, über deren Einzelheiten man zwar diskutieren kann, deren Grundrichtung aber von vorneherein gegeben sein muss. Wölfe - wie andere soziale Lebewesen dieser Welt - hätten niemals die letzten Jahrmillionen überleben können, wenn sie nicht ihre Welpen sinnvoll erzogen hätten, damit sie später einmal selber eine Familie aufbauen und erhalten können. Der Mensch wäre ausgestorben, wenn nicht eine auf die Autorität des Reiferen ausgerichtete Erziehung die Folgegeneration an die Umweltverhältnisse angepasst hätte. Bei allen angeborenen Verhaltensweisen - den Erbkoordinationen - wäre das Leben des Wolfes oder das des Menschen in seinen vielfältigen Erscheinungsformen niemals weitergegangen, wenn nicht gereifte Individuen die eigenen Erfahrungen hinsichtlich der Beherrschung der jeweiligen Umwelt - als Erwerbskoordinationen - weitergegeben hätten. So haben sich bei Mensch und Wolf Traditionen entwickelt als Umweltanpassung über die angeborenen Verhaltensweisen hinaus. Traditionen, die von jeder Folgegeneration zwar übernommen, aber dann doch im Verlaufe der Umweltwandlungen modifiziert worden sind. Da Umweltwandlungen nicht über Nacht hereinbrechen, konnte das stets in kleinen Schritten erfolgen - es kann auch in unsrer schnelllebigen Zeit so gehen, selbst wenn die Anpassungsschritte dann etwas größer werden müssen. Aber ohne den Fundus des bislang Erprobten geht es nicht. Die Basis aller höheren Lebewesen besteht aus Erbkoordinationen - aber sie sind nur ein Grundgerüst, ein offenes System, in das die Erfahrungswerte eingepflanzt werden müssen.

Wir Menschen haben so ein Grundverhaltensmuster, das uns angeboren ist ...... um uns neuen Umweltbedingungen anpassen zu können ....  etwa in dem Maße, in dem es auch das noch nicht fertig entwickelte Gehirn eines kleineren Kindes kann.

Diese Möglichkeiten zu nutzen, ist sowohl Aufgabe des Kindererziehers als auch des Hundeerziehers. Um beiden Seiten gerecht zu werden, braucht es keine allzu verschiedenen Prinzipien. Kind wie Hund wollen nur wissen, wo sie hingehören, das heißt, an welche Umwelt sie sich anpassen sollen. Denn beiden gemeinsam ist das Bestreben, sich an den ihnen vorgegebenen Lebensraum anzupassen; sie wollen in ihn integriert werden. Sie wollen wissen, wo ihr Platz im sozialen Agreement ist. Dieses Bestreben hat seine Wurzeln in der eigenen Unsicherheit. Kind wie Hund merken, dass Sicherheit nur da geboten ist, wo der Familienzusammenhalt klappt, wo das Unverständliche der großen, weiten Welt draußen bleibt, außerhalb des Geborgenseins im Schoß der Familie. Auch, wenn man mal die Nase aus dieser Umzäunung herausstreckt, weil man ja von Natur aus neugierig ist. Neugierde ist es ja, die jeden Fortschritt ermöglicht. Ohne dieses elementare, angeborene Bedürfnis gäbe es weder Wissenschaft noch Kunst. Kind und Hund - ohne einfühlsames Verstehen beider Naturen geht es nicht. ........Die Individualität ist nicht nur bei unseren Haushunden da - sie zeichnet auch uns Menschen aus. Fertige Gebrauchsanweisungen gibt es da nicht, denn jeder Hund ist anders, und jedes Kind ist anders, und alle Eltern sind anders. Was bleibt, ist die eigene Verantwortlichkeit." 1)

Die eigene Verantwortlichkeit der Eltern, heißt für mich aber auch zu sehen, wo Anpassung einen Sinn macht. Soziale Anpassung ist Grundsatz - aber bedeutet das auch Anpassung um jeden Preis an die bewertbare, bezahlbare Leistungsgesinnung unserer Gesellschaft. Wo bleibt die Geborgenheit im Schoß der Familie, wenn Muttern ihren Wert als Mutter unterbewertet und sich doppelt und dreifach durch Beruf und Familie belastet. Wo bleibt die Individualität des Kindes, wenn wir nur die schulische Leistung sehen oder nicht die Ursachen seiner Unruhe erkennen oder sie in andere Bahnen lenken können - wenn wir nicht die anderen wunderbaren Fähigkeiten sehen können, weil sie nicht in ein Schubladensystem passen? Warum erklären wir das Kind für krank, wenn es seine Nase zu oft aus der Umzäunung in die große weite Welt herausstreckt und bekämpfen es möglicherweise voreilig mit Medikamenten? 

Diese Form der Anpassung dient nur der leistungsorientierten Masse und untergräbt der Entwicklung des einzelnen, neugierigen, der Welt offen gegenüber tretenden kleinen Menschen - unseres Kindes.

Es gibt Hunde die bellen laut und viel, andere bellen nie. Es gibt Hunde die jagen, welche die wachen und andere die hüten. Doch kein Jagdhund wird den Jagdtrieb bei seinem Welpen unterdrücken und ihn zum kläffenden Hütehund umerziehen.

 

Quellenangabe:

1) Trumlers Ratgeber für den Hundefreund, 1000 Tipps von Eberhard Trumler
R. Piper & Co., München 1977,
Neuausgabe 1989,
ISBN 3-492-10940-3